NEWS: Papst Franziskus und die Cancel Culture in der Kirche

Als Papst Franziskus vor zehn Jahren gewählt wurde, war die Entscheidung, einen Teil der jüngeren Kirchengeschichte neu zu schreiben, sofort klar. Die außerordentliche Bedeutung, die den Gesten von Papst Franziskus beigemessen wird, die Aufmerksamkeit der Medien, aber auch einige der Gesten, die Franziskus selbst von Anfang an gemacht hat, zeigten dies.

In den zehn Jahren seines Pontifikats schwenkte Papst Franziskus zwischen Tradition und Innovation hin und her, ohne den beiden Begriffen eine tiefere Bedeutung zu geben. Seine Entscheidung, Lorenzo Baldisseri, dem Sekretär des Konklaves, den Kardinalshut zu geben, entspricht dem, was auch Papst Johannes XXIII. unter anderen Umständen auch getan hatte. Seine Entscheidungen über die Kurie sind allerdings fragwürdig und erinnern an eine Theologie, die seit Jahren ad acta gelegt worden war.

Die Idee eines missionarischen Papsttums, das den Institutionalismus beiseite schiebt; der Wunsch nach einem Zentrum, das tatsächlich im Dienst der Ränder steht und die alten Machtstrukturen aufgibt; die Dialektik zu den Problemen der institutionellen Kirche und damit der Angriff auf den Klerikalismus; all das waren Ideen, die sich während und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbreitet hatten und in den Debatten virulent geworden waren.

Paul VI. versuchte, das Steuerruder gerade zu halten. Er setzte die Bischofssynode ein und verkündete vor allem Humanae Vitae, eine Enzyklika, die die traditionelle Lehre der Kirche bekräftigte und in der Tat jeden Versuch, über das Depositum Fidei hinauszugehen, hinwegfegte. Diese Enzyklika war sehr umstritten, doch der Anspruch zur Befolgung ihrer Grundsätze war sehr weit gefaßt, fast vollständig. Der damalige Kardinal Karol Wojtyla betonte sogar, daß die Enzyklika mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit zu verknüpfen sei, indem er hervorhob, daß der Papst keine Meinung vertreten, sondern die wahre Lehre zusammengefaßt habe.

Kurz gesagt, es gab eine anhaltende Debatte, die die Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zu überwinden versucht hatten. Johannes Paul II. hatte dies getan, indem er den ständigen Dialog über Glaubensfragen suchte und gleichzeitig maßgebliche Institutionen schuf. Der Ansatz von Benedikt XVI. bestand darin, stets die zentrale Stellung Christi zu betonen – und zwar auf besonders symbolische Weise mit der Veröffentlichung der Bücher über Jesus von Nazareth.

Es geht um sehr aufschlußreiche symbolische Entscheidungen. Benedikt XVI. wollte, daß das Thema der Konferenz von Aparecida, bei der Bergoglio Generalberichterstatter war, um zwei Worte ergänzt wird: „Damit unsere Völker das Leben haben“. Mit Benedikt XVI. wurde daraus: „Damit unsere Völker das Leben in Ihm haben“.

Johannes Paul II. hingegen änderte die Struktur des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und machte ihn zu einem Rat, der sich aus den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen und nicht mehr aus delegierten Bischöfen zusammensetzt. Auf diese Weise wurde die Debatte der europäischen Bischöfe aufgewertet, indem ihnen mehr Autorität verliehen wurde. Das Gremium wurde zu einem Gremium von Vorsitzenden, und die europäischen Debatten konnten leicht zu nationalen Debatten werden, da sie von den Vorsitzenden an die Vollversammlungen berichtet wurden.

Ein Sieg für die Kurie? Ein Buch von Francesca Perugi mit dem Titel „History of a Defeat“ (Geschichte einer Niederlage) behauptet ja. Es zeigt nämlich auf, daß das, was in Sankt Gallen, dem Sitz des CCEE, einst eine [hoffnungsvolle] „Feuerstelle“ war, von einem neuen Protagonismus der Römischen Kurie ins Abseits gedrängt wurde, und daß somit der ganze Keim der großen nachkonziliaren Debatte hinweggefegt wurde.

Zwischen den Streitern für den Dialog und den Kulturkämpfern habe sich Johannes Paul II. für letztere entschieden, indem er der großen Erfahrung von Sankt Gallen, die sich um Kardinal Carlo Maria Martini, Erzbischof von Mailand und mehrere Jahre lang Vorsitzender des CCEE, gebildet hatte, ein Ende setzte.

Mit diesen Worten soll das Narrativ von der „Mafia von Sankt Gallen“ durchbrochen werden, das insbesondere durch ein Buch der Historikerin Julia Meloni lanciert wurde, die stattdessen feststellt, wie die Gruppe für einen echten „Staatsstreich“ strukturiert war, indem sie zunächst auf Bergoglio als Kandidaten für das Konklave 2005 abzielte und sich dann auf Ratzinger einigte, um die Kandidatur von Kardinal Ruini zu verhindern. Ruini wäre in der Tat der Vertreter jener Strömung der „Kulturkämpfer“ gewesen, die Johannes Paul II. 1985 auf dem Kirchentreffen der Italienischen Bischofskonferenz unterstützt hatte.

Kurz gesagt, Johannes Paul II. hätte jede Erfahrung von Debatte und Kollegialität unterbunden, indem er sein eigenes Modell durchgesetzt und damit einmal mehr die übermäßige Macht einer Kurie gezeigt hätte, die nicht wollte, daß die Ränder hervortreten.

Aber ist dem wirklich so?

Papst Franziskus scheint dieser Idee Glauben zu schenken, und seine Entscheidungen gehen alle in Richtung einer fortschreitenden Dekonstruktion der Kurie und ihrer Machtstrukturen. Bei Papst Franziskus ist keine Ernennung sicher, kein Titel wird automatisch verliehen, und alles muß in einem missionarischen Geist verstanden werden, der die Reform der Kurie antreibt.

Gleichzeitig geschieht jedoch nichts ohne die Genehmigung des Papstes, keine Entscheidung kann unabhängig getroffen werden, und an einem Ort, an dem sich Ernennungen und sogar die „Spielregeln“ schnell ändern können, ist der Papst mit seiner Persönlichkeit und seinen Entscheidungen der einzige Bezugspunkt.

Papst Franziskus hat das antirömische Narrativ in viele seiner Reden einfließen lassen und von Anfang an den Ausdruck „die alte Kurie“ verwendet, um auf eine Gruppe von gläubigen Kurienmitgliedern zu zeigen, die der Kirche treu geblieben sind, und damit jene anzusprechen, die sich von den letzten beiden Pontifikaten „besiegt“ fühlten.

Selbst in den Konsistorien hat es Papst Franziskus nicht versäumt, vermeintlich erlittenes Unrecht symbolisch „wiedergutzumachen“, wobei er oft sogenannte „Wiedergutmachungskardinäle“ einsetzte (wie den ehemaligen Nuntius Rauber, dessen Empfehlungen für die Ernennung des Erzbischofs von Brüssel nicht befolgt wurden, und Fitzgerald, der vom sehr wichtigen Posten des Sekretärs des Päpstlichen Rats für den interreligiösen Dialog als diplomatischen Gesandten nach Ägypten versetzt wurde) [Msgr. Michael Louis Fitzgerald M.Afr. war zwar zunächst Sekretär, von 2002 bis 2006 jedoch Präfekt dieses Päpstlichen Rats. Als solcher wurde er von Papst Benedikt XVI. entlassen und zum Apostolischen Nuntius für Ägypten ernannt, Anm. GN].

Wir wissen nicht, ob diese Schritte des Papstes [Franziskus] ein Zugeständnis waren, um Druck zu vermeiden, oder ob sie aus ideologischer Überzeugung erfolgten. Es ist jedoch bemerkenswert, daß es in der Kirche selbst eine Kultur der Cancel Culture gibt, die versucht, die Geschichte umzuschreiben und alles, was gegen die aktuelle Mentalität oder für die Institutionen spricht, in ein negatives Licht zu rücken. Die Institutionen werden fast als böse angesehen, während eine personalistische Regierung problemlos akzeptiert wird. Das ist paradox, aber es ist die heutige Realität.

Tatsache ist, daß wir es mit einer Kirche zu tun haben, die sich selbst nicht kennt und nicht einmal die Bedeutung ihrer Geschichte und ihrer Vergangenheit versteht. Die Kirche war schon immer auf die Vergangenheit orientiert, von der Rückkehr zu den Ursprüngen, denn in der Erfahrung Christi spiegelt sich alles wider. Heute jedoch scheint die Vergangenheit eine Last zu sein, und es werden Entscheidungen getroffen, ohne frühere Erfahrungen auch nur zu berücksichtigen. Es ist eine Welt, in der die Fiktion die Oberhand über die Fakten hat. Und in der wir das Drama von Kirchenmännern erleben, die mehr an einem bestimmten Narrativ interessiert sind als an der Geschichte der Kirche, ihrer Tradition, ihrem Leben.

Es gibt eine Verwechslung zwischen praktischen Entscheidungen und ideologischen Bindungen. Natürlich gab es mit der Wahl von Papst Franziskus den Wunsch nach einem narrativen Staatsstreich. Es ist kein Zufall, daß Austen Ivereigh von einem echten ‚Team Bergoglio‘ sprach, das sich in Sankt Gallen traf (‚wir waren eine Art Mafia‘, sagte Kardinal Danneels nur halb scherzhaft), das aber nicht das ‚Zönakel‘ des CCEE war. Es ist nicht verwunderlich, daß das [neue] Pontifikat diese Medienwirkung hatte. Doch als es um die Überprüfung von Humanae Vitae ging, räumte Professor Gilfredo Marengo, der gewiß kein Konservativer ist, ein: Paul VI. hat nicht allein gehandelt.

Es gibt eine Kirche, die weiterlebt, und eine Tradition, die nie aufgegeben wurde. Die Frage ist, ob sie überleben oder dem Narrativ erliegen wird.

Quelle: Katholisches.info

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