Ein Kommentar aus Sicht katholischer Theologie
Seit seiner Ernennung zum Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre im Jahr 2023 hat Víctor Manuel „Tucho“ Fernández mehrfach signalisiert, dass er die Art und Weise, wie die Kirche künftig mit Privatoffenbarungen – insbesondere Marienerscheinungen – umgeht, neu strukturieren will. Die jüngste „Norm zur Beurteilung mutmasslicher übernatürlicher Phänomene“ vom 17. Mai 2024 stellt dabei einen Wendepunkt dar. Auf den ersten Blick mag die neue Regelung wie ein Versuch wirken, pastorale Prozesse zu beschleunigen oder Klarheit zu schaffen. Doch ein tieferer Blick offenbart eine beunruhigende Entwicklung: den Versuch, charismatische Phänomene, besonders marianischer Prägung, der kirchlichen Kontrolle und Deutungshoheit radikal zu unterwerfen – auch um den Preis der Wahrheit und prophetischen Freiheit.
1. Die theologische Stellung von Marienerscheinungen
Nach katholischer Lehre sind Privatoffenbarungen – auch Marienerscheinungen – nicht konstitutiv für den Glauben (vgl. Dei Verbum 10), wohl aber können sie „dazu beitragen, Christus in einer bestimmten Epoche besser zu verstehen und aus ihm zu leben“ (vgl. KKK 67). Die kirchliche Tradition erkennt an, dass die Muttergottes auch nach der apostolischen Zeit als Fürsprecherin, Helferin und Prophetin dem gläubigen Volk erscheinen kann – nicht als neue Offenbarerin, sondern als Wegweiserin zum Evangelium. Von Lourdes über Fatima bis Kibeho zeigen marianische Phänomene eine auffällige Gemeinsamkeit: Sie rufen zur Umkehr, Busse und Treue zur kirchlichen Lehre auf.
Gerade darin liegt auch ihre prophetische Kraft – und ihre Herausforderung für die Hierarchie. Denn wenn Marienerscheinungen nicht bloss trösten, sondern ermahnen, warnen oder gar kirchliche Zustände kritisieren, dann entsteht ein Spannungsfeld zwischen charismatischer Unmittelbarkeit und institutioneller Kontrolle.
2. Fernández‘ Neuerlass: Entmachtung des Übernatürlichen?
Die neue Norm von Fernández bricht mit der überlieferten Praxis der Bewertung von Erscheinungen. Statt der traditionellen Einstufung in „constat de supernaturalitate“ (übernatürlicher Ursprung gegeben) oder „non constat“ gibt es nun sechs Kategorien, von denen keine eine positive übernatürliche Anerkennung auszusprechen vermag. Vielmehr wird der Fokus auf eine „pastorale Relevanz“ gelegt – die Echtheit des übernatürlichen Ursprungs scheint nebensächlich geworden zu sein.
Dies bedeutet faktisch eine Suspendierung des Übernatürlichen: Selbst wenn ein Phänomen offensichtlich übernatürliche Züge trägt, wird dies kirchlicherseits nicht mehr anerkannt – aus Furcht vor Missverständnissen, Fehlentwicklungen oder medialer Vereinnahmung. Diese Haltung mag pastoral motiviert sein, entbehrt jedoch einer entscheidenden Dimension: dem Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes, der auch heute noch Zeichen und Wunder wirkt, wie die Schrift bezeugt (vgl. 1 Kor 12,7–11).
Die neue Norm kann also als ein Versuch gelesen werden, das Unkontrollierbare, das Charismatische, das Prophetische – das, was sich der theologischen Bürokratie entzieht – zu bändigen oder zumindest in neutrale Formeln zu kleiden.
3. Das Misstrauen gegen das Prophetische – eine alte Versuchung
Im biblischen Befund zeigt sich: Immer wieder stehen institutionelle Autoritäten den Propheten feindlich gegenüber. Jeremia wird ins Gefängnis geworfen, Amos aus dem Tempel gejagt, und auch Jesus selbst wird abgelehnt – weil das Establishment das freie Wort Gottes fürchtet. Die neue Norm des Dikasteriums scheint in diese Linie zu fallen: Statt offen zu prüfen, was vom Geist ist (vgl. 1 Thess 5,19–21), wird präventiv entschärft, zurückgewiesen oder zumindest in den pastoralen Raum verschoben.
Fernández‘ theologische Grundhaltung – stark beeinflusst vom Denken seines Freundes Papst Franziskus – misstraut dem „Triumphalismus“ und der „übernatürlichen Überhöhung“. Doch damit besteht die Gefahr, dass wahre prophetische Zeichen – besonders in Zeiten der Glaubenskrise – ignoriert oder relativiert werden.
4. Fatima und die Warnung vor der Selbstberuhigung
Gerade Fatima ist ein Beispiel für den langen innerkirchlichen Widerstand gegen marianische Warnungen. Die prophetischen Aussagen der Seherkinder über Krieg, Irrlehren und die Notwendigkeit der Weihe Russlands wurden jahrzehntelang zurückgehalten oder abgeschwächt. Und doch erwiesen sie sich im Licht der Geschichte als zutreffend. Wenn die Kirche heute Erscheinungen wie in Medjugorje, San Nicolás oder Garabandal nicht mehr klar prüfen oder bestätigen will, riskiert sie, den prophetischen Ernst der Stunde zu verschlafen.
Fernández’ neue Norm ist damit nicht nur eine Verwaltungsmassnahme, sondern eine theologische Weichenstellung: Die Kirche zieht sich vom Anspruch zurück, übernatürliche Phänomene erkennen und benennen zu können – aus Angst, Fehler zu machen oder das Urteil revidieren zu müssen.
5. Fazit: Kontrolle ersetzt Vertrauen
Die Kirche ist kein Verwaltungsapparat, sondern der mystische Leib Christi, durchwirkt vom Wirken des Geistes. Erscheinungen – besonders marianische – gehören zur spirituellen Geschichte der Kirche und dürfen nicht zum Spielball pastoraler Vorsicht oder institutioneller Machtlogik werden. Fernández’ Normen mögen kirchenpolitisch klug sein, theologisch aber sind sie ein Rückschritt: Sie ersetzen Vertrauen durch Kontrolle, Glaubensoffenheit durch bürokratische Neutralisierung.
Die Kirche braucht keine neue Skepsis gegenüber dem Übernatürlichen, sondern eine erneuerte Unterscheidung der Geister, eine Rückbesinnung auf die Charismen – und vor allem eine Offenheit für das prophetische Wirken Mariens, die als Mutter der Kirche auch heute ruft: „Tut, was Er euch sagt!“ (Joh 2,5)
