Mit der Wahl von Papst Leo XIV. verbindet sich für viele Katholiken die Hoffnung auf eine Wende in zentralen theologischen und kirchenpolitischen Fragen. Im Zentrum dieser Erwartungen steht das umstrittene vatikanische Dokument Fiducia supplicans, veröffentlicht am 18. Dezember 2023 von Kardinal Víctor Manuel Fernández, dem damaligen Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre. Die Erklärung löste weltweit Debatten aus – nicht nur über ihre pastorale Umsetzung, sondern auch über ihre dogmatische Tragweite. Unter Papst Franziskus galt das Papier als pastorale Öffnung, unter Leo XIV. wird nun erstmals offen über eine mögliche Rücknahme gesprochen. Im Fokus: der öffentliche Schlagabtausch zwischen Kardinal Jean-Marc Aveline Ambongo und Kardinal Fernández.

Die Grundspannung: Pastoral versus Dogma?

Fiducia supplicans legitimiert – unter bestimmten Voraussetzungen – die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, ohne dabei eine Gleichsetzung mit dem Ehesakrament vorzunehmen. Doch schon dieser Schritt wird von vielen als eine faktische Veränderung der katholischen Morallehre empfunden. Fernández verteidigte das Dokument stets mit Verweis auf eine „pastorale Logik der Barmherzigkeit“. Für ihn ist es ein Schritt auf Menschen zu, die sich – trotz irregulärer Lebenssituationen – nach dem Segen Gottes sehnen. Kardinal Ambongo, Vorsitzender des afrikanischen Bischofsrates (SECAM), sprach dagegen von einer „pastoralen Falle“: Wo das Sündenbewusstsein schwinde, gehe auch der Sinn für Umkehr und Erlösung verloren.

Ambongos Wortmeldung vom Juni 2025 fiel nicht zufällig: Sie war nicht nur theologisch pointiert, sondern auch politisch kalkuliert – mitten in die ersten Wochen des neuen Pontifikats. Er forderte eine „klare Korrektur“ von Fiducia supplicans, sprach sogar von einem „theologischen Stolperstein“, der die Einheit der Kirche untergrabe. Diese Worte stellen eine direkte Herausforderung an Fernández dar, dessen Position unter Leo XIV. bereits als geschwächt gilt.

Die Lehre der Kirche – evolutionär oder bewahrt?

Die eigentliche Kontroverse berührt ein tieferes theologisches Gefälle: Ist die katholische Lehre etwas Gewachsenes, das sich unter dem Einfluss pastoraler Situationen weiterentwickelt (pastorale Entwicklung der Lehre)? Oder ist sie – in Bezug auf bestimmte moralische Wahrheiten – unveränderlich, weil sie göttlichen Ursprungs ist?

Fiducia supplicans behauptet, keine Lehre zu verändern. Doch gerade diese Behauptung wird von vielen Theologen bezweifelt. Denn Segnungen sind im katholischen Verständnis keine blossen symbolischen Gesten – sie implizieren eine Anerkennung des Gesegneten als im Einklang mit Gott stehend. Wenn aber eine Lebensform objektiv der Lehre widerspricht (z.B. gelebte Homosexualität ausserhalb einer Ehe von Mann und Frau), dann wirkt eine Segnung wie eine stille Billigung. Kardinal Ambongo bringt es auf den Punkt: „Ein Segen, der nicht zur Umkehr aufruft, sondern in der Verharrung bestärkt, ist kein Akt der Liebe, sondern ein Missbrauch des Segens.“

Leo XIV. – ein Papst zwischen Bruch und Bewahrung?

Papst Leo XIV. hat sich bislang nicht ausdrücklich zur Zukunft von Fiducia supplicans geäussert. Doch viele Beobachter deuten seine liturgische Strenge, seine theologische Sprache und seine Rückgriffe auf die klassische Lehre als Indizien dafür, dass er eine Korrektur des Kurses vornehmen könnte. Die Frage lautet: Wird er das Dokument offiziell zurückziehen, revidieren – oder es durch faktisches Schweigen und personelle Umbauten obsolet machen?

In kurialen Kreisen ist bereits von einer „theologischen Phase der Revision“ die Rede. Die faktische Entmachtung von Fernández durch die wachsende Autorität anderer Kardinäle – etwa Ambongo oder Müller – könnte auf eine stille Kurskorrektur hindeuten. Ein möglicher Rückzug von Fiducia supplicans würde dabei nicht nur einen innerkirchlichen Bruch markieren, sondern auch eine Rückkehr zur klaren Unterscheidung von Sünde und Segen.

Einheit in Wahrheit – oder Spaltung durch Unklarheit?

Die Auseinandersetzung um Fiducia supplicans ist mehr als ein Streit zwischen zwei Kardinälen. Es geht um das Fundament der kirchlichen Lehre selbst: Ist die Wahrheit relativierbar im Dienst der Pastoral? Oder ist die Pastoral dem Dienst an der Wahrheit verpflichtet – auch wenn sie fordert, verletzt, unbequem ist?

Papst Benedikt XVI. warnte einst vor einer „falschen Barmherzigkeit“, die letztlich zur Verwässerung der Wahrheit führe. Kardinal Ambongo scheint diese Linie fortzusetzen – als Stimme eines globalen Südens, der sich weigert, sich dem westlichen Zeitgeist zu unterwerfen. Kardinal Fernández hingegen steht für eine Theologie der „pastoralen Evolution“, in der die Praxis neue Lehrformen hervorbringt.

Ausblick: Eine Entscheidung von kirchengeschichtlicher Tragweite

Die Entscheidung, ob Fiducia supplicans unter Leo XIV. revidiert oder zurückgenommen wird, ist nicht nur eine Frage innerkirchlicher Disziplin. Sie betrifft die Ekklesiologie selbst – das Selbstverständnis der Kirche in einer zerrissenen Welt. Wird die Kirche als Lehrmeisterin der Wahrheit erkennbar bleiben, oder wird sie zur spirituellen Begleiterin im Pluralismus?

Der Schlagabtausch zwischen Ambongo und Fernández bringt diese Fragen in den Mittelpunkt. Und Papst Leo XIV. steht vor der Entscheidung, ob sein Pontifikat zur Stunde der Klärung wird – oder zur Fortsetzung eines pastoralen Schwebezustands.

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