NEWS: Berner Katholiken möchten nicht mehr zahlen

1002 Fälle. 

510 Beschuldigte. 

921 Betroffene, darunter Kleinkinder und Säuglinge.

Forschende der Universität Zürich haben das alles aufgedeckt und in einem 136-seitigen Bericht zum sexuellen Missbrauch im Umfeld ebenjener römisch-katholischen Kirche festgehalten.

So steht die katholische Kirche da, erschüttert bis in ihre Grundfesten. Getroffen wurden sie alle, auch die Pfarreien im Bernbiet.

Noch ist es schwer abschätzbar, wie sich die vernichtenden Ergebnisse des vor zwei Wochen publizierten Papiers etwa auf die Mitgliederzahlen in der römisch-katholischen Kirche auswirken. Aber es gibt erste Anhaltspunkte einer Abkehr – und von Kollateralschäden.

Abschiedsbriefe in die Redaktion

«Es ist immer ein Indiz, wenn uns fehlgeleitete Austrittsschreiben erreichen», sagt Andreas Krummenacher. Der Mann ist kein Geistlicher, sondern Chefredaktor. Zusammen mit einem kleinen Team publiziert er das «Pfarrblatt», die Zeitung der römisch-katholischen Pfarreien im Kanton Bern. 

Die jüngste Ausgabe befasst sich fast ausschliesslich mit dem Missbrauchsskandal und mit seinen Opfern. Das Editorial endet mit einem Hinweis: «Lesen Sie diese Ausgabe dosiert. Sie ist harte Kost.» Es folgt Fundamentalkritik. Seite um Seite. An den Kirchenoberen und den Machtkartellen, denen sie vorstehen.

«Klar nehmen die Menschen den Bericht zum Anlass für einen Kirchenaustritt.»

Die Briefe, die seither täglich (wenn auch fälschlicherweise) bei Krummenacher auf dem Pult landen, sie sind ein Hinweis auf einen bevorstehenden Exodus. Krummenacher: «Klar nehmen die Menschen den Bericht zum Anlass für einen Kirchenaustritt.»

Bereits seit Jahren befindet sich die katholische Kirche in der Schweiz auf einem Popularitätstief: Mit mehr als 34’000 Personen erklärten 2021 so viele Katholikinnen und Katholiken wie noch nie den Austritt. 

Wohin die Kirchensteuer fliesst

Im Kanton Bern zählte die katholische Kirche Ende des vergangenen Jahres rund 150’000 Mitglieder. Ein beträchtlicher Teil von ihnen hat Wurzeln in Südeuropa. 

Gemäss Regula Furrer, Generalsekretärin der Landeskirche Kanton Bern, ist die Erfassung der Kirchenaustritte einem erfahrungsgemäss längeren Prozess unterworfen. Zum momentanen Zeitpunkt könne man für den Kanton Bern keine aussagekräftigen Trends vorhersagen.

Die katholischen Landeskirchen üben das Gegengewicht aus zu den Bistümern, die an den Vatikan rapportieren. Es sind Verwaltungsapparate, die unter anderem darüber entscheiden, wo und wie die Kirche ihr Geld ausgibt. Die Enthüllungen sorgten für Spannungen zwischen den Zentren der katholischen Macht in der Schweiz.

Etwa als Renata Asal-Steger  in Aussicht stellte, die Überweisung von Kirchensteuergeldern an die Bistümer zu verweigern, sollte sich in der Aufarbeitung «zu wenig bewegen». Sie ist die Präsidentin der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz, dem Zusammenschluss aller kantonalen (und damit staatlichen) Kirchenorganisationen.

Gepaart ist diese Drohung mit Forderungen, etwa nach einer nationalen Meldestelle für Opfer und einem Verbot von Aktenvernichtung. Auch im Kanton Bern, der nach katholischer Lesart zum Bistum Basel gehört, wird man schon bald über diese Vorschläge beraten. Der Landeskirchenrat werde die Frage nach einem Stopp der Finanzierung des Bistums an seiner Sitzung vom 11. Oktober vertieft diskutieren, sagt Regula Furrer.

Der Papst und die Reformierten

Der Kanton Bern ist allerdings ein reformierter Kanton. Die reformierte Kirche mit ihren 400’000 Mitgliedern ist deutlich grösser als die katholische. Doch die Auswirkungen des Skandals sind bis in ihre Reihen spürbar. 

Kathrin Brodbeck ist Pfarrerin in Moosseedorf. Sich für die Schwächeren einzusetzen, sie zu schützen: Das sei eine ihrer zentralen Aufgaben, überhaupt jene der Kirche als Institution. «Gerade deshalb erschüttern mich die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche derart», sagt sie. Diese treffen daher nicht nur die katholische Kirche, nein, ihr Berufsverständnis im Kern. 

«Kirchenmitglieder begründeten ihren Austritt auch schon damit, dass sie den Papst ablehnen.»

Zudem sieht sie als Präsidentin des Berufsverbands der Pfarrpersonen Bern-Jura-Solothurn durch die Missbräuche eine «kirchen- und kleruskritische Stimmung» befeuert. Mit nur einem Austritt aus ihrer Kirchgemeinde in den vergangenen zwei Wochen kann sie bislang nicht abschätzen, ob eine Austrittswelle anrollt. Eine Gleichsetzung beobachtet Kathrin Brodbeck aber: «In der Vergangenheit begründeten Kirchenmitglieder ihren Austritt auch schon damit, dass sie den Papst ablehnen.»

Andernorts sind die Auswirkungen konkreter. So stellen Vertreter der evangelisch-reformierten Gesamtkirchgemeinde der Stadt Bern fest: «Seit Bekanntwerden des Berichts kommt es vermehrt zu Austritten.» Zuvor sei die Anzahl Austritte vergleichbar mit jener des Vorjahres gewesen.

Mit der katholischen Kirche über «denselben Kamm geschoren zu werden», das will Kathrin Brodbeck nicht. Nach dem erschütternden Bericht nun mit dem Finger auf andere zu zeigen, sei aber ebenso die falsche Strategie. «Vielmehr erhoffe ich mir, dass auch die evagelisch-reformierte Landeskirche nun noch genauer hinschaut.»

Nulltoleranz

Die Reformierten sind anders aufgestellt als die römisch-katholische Kirche, die seit jeher Klöster, Kinderheime und Internate unter kirchlicher Leitung betreibt. Dennoch hält Markus Dütschler, Sprecher der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, fest: «Leider kann es auch in unserer Kirche Verfehlungen geben, wie dies auch in Schulen, Sportclubs oder Jugendorganisationen oder in Unternehmungen der Fall ist.»

Eine solche «Verfehlung» machten die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn jüngst am Freitag publik: Ein Mitarbeiter der reformierten Kirche hat eine «mutmassliche Grenzverletzung» innerhalb der Organisation begangen. Die Kirchenleitung zeigte diesen bei den zuständigen Behörden an. Es gelte das Prinzip von Nulltoleranz, so Dütschler.

Quelle: msn, der bund

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